Vor kurzem wurden mir interessante Fragen zum Thema Fasten und dessen Auswirkungen auf die Psyche gestellt. Zusammenhänge zwischen körperlicher Gesundheit und Fasten werden häufig diskutiert. Damit einhergehende psychische Veränderungen werden seltener zum Thema gemacht. Ein Anlass, um die Bedeutung des Fastens für die Psyche mal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Auswirkungen des Fastens auf die Psyche gestalten sich sehr individuell und sind geprägt von der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung durch die fastende Person. Die Motive für das Fasten sind vielfältig. Was ist das individuelle Ziel des Fastens? Geht es um einen Prozess der Selbsterfahrung, um religiöse Motive, um einen bewussten Umgang mit Verzicht, um mehr Achtsamkeit gegenüber Körper, Geist und Seele oder um Gewichtsverlust? Vorweg möchte ich erwähnen, dass ich Fasten für ungeeignet halte, wenn das Ziel eine Gewichtsreduktion bzw. eine Verbesserung des Essverhaltens ist, denn die Veränderungen des Körpergewichts bzw. der Essgewohnheiten sind mit hoher Wahrscheinlichkeit über die Fastenperiode hinaus nicht nachhaltig.
Auswirkungen des Fastens aus (ernährungs-)psychologischer Sicht
Eine deutliche Reduktion der Nahrungsaufnahme schärft das Bewusstsein für Körper, Geist und Emotionen. Bedürfnisse werden wieder besser wahrgenommen. Körperlichen Hunger zu spüren, ist in der heutigen Zeit oft eine Ausnahme. Essen ist im Überfluss ständig und überall verfügbar. Das meist unbewusst ablaufende Essverhalten bringt mit sich, dass oft ohne körperlichen Hunger oder über das Sättigungsgefühl hinaus sowie ohne ausreichende Pausen zwischen den Mahlzeiten gegessen wird. Beim Fasten wird körperlicher Hunger wieder bewusst wahrgenommen, ebenso werden Emotionen intensiver empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil diese im üblichen Alltagstrott oft mit Essen "ruhig gestellt werden".
Fasten lässt die Nahrungsaufnahme wieder bewusster ablaufen, fördert achtsames Essen und eine reflektierte Wahrnehmung von physiologischen sowie emotionalen Reaktionen auf Hunger und Sättigung.
Auf mentaler Ebene setzt sich ein Bewusstseinsprozess in Gang, der dazu führen kann, das eigene Leben zu überdenken und zu hinterfragen sowie ungestillte Bedürfnisse zu erkennen. Diese Selbsterfahrung und intensivere Wahrnehmung körperlicher und emotionaler Bedürfnisse können ein Anstoß für gewünschte Veränderungen der Lebensgestaltung und Gewohnheiten sein.
Darüber hinaus kann Fasten mit Veränderungen des Konzentrationsvermögens, der Aufmerksamkeit, der Stimmung und Schlafqualität einhergehen.
Fasten und Wohlbefinden
Durch die eingeschränkte Nährstoffzufuhr kommt es beim Fasten zu Veränderungen des hormonellen Gleichgewichts und des Stoffwechsels, was mit Veränderungen der Stimmung einhergehen kann.
Einerseits gibt es Hinweise darauf, dass Fasten die Konzentration von Serotonin - auch als Glückshormon bekannt - im Körper steigern kann. Die Nahrungsreduktion erhöht die Verfügbarkeit von Tryptophan - ein wichtiger Baustoff dieses Hormons. Serotonin wirkt stimmungsaufhellend und appetithemmend.
Andererseits führt Hunger im Körper zu einer Stressreaktion, wodurch der Cortisol-Spiegel steigt. Reizbarkeit, Unruhe oder Nervosität können unter anderem die Folge sein. Eine erhöhte Cortisol-Konzentration kann unter anderem durch die Aufnahme von Kohlenhydraten gesenkt werden, jedoch ist während einer Fastenperiode - je nach gewählter Ernährungsform - die Kohlenhydrat-Aufnahme sehr stark reduziert.
Die Wahrnehmung von Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit während des Fastens, die damit einhergehende Steigerung des Selbstwertes und der empfundene Stolz tragen zu einer erhöhten Zufriedenheit in der Zeit des Fastens bei.
Fasten und Stolz
Jeder Mensch verfügt über einen mehr oder weniger starken biologischen impulsiven Antrieb. Demgegenüber steht die individuelle Verhaltenskontrolle. Aus diesen beiden Faktoren ergibt sich die Impulsivität eines Menschen, die bei starker Ausprägung dazu beitragen kann, dass beispielsweise in emotional belastenden Situationen ganz automatisch (fast wie ferngesteuert) zur Schokolade gegriffen wird. Durch das Fasten kann man*frau eine erhöhte Kontrolle über das eigene Essverhalten erlangen, was mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit einhergeht. Man*frau ist nicht mehr nur Passagier des automatisch ablaufenden Verhaltens, sondern hat das Steuer wieder in der Hand und bestimmt die Richtung des Weges selbst. Diese Fertigkeit zu erlangen, macht viele fastende Menschen stolz - umso mehr jene Menschen, die in herausfordernden Situationen impulsiv zum Essen greifen. Jedoch kann diese rigide Kontrolle des Essverhaltens nicht dauerhaft funktionieren und das gesunde Essverhalten beeinträchtigen.
Essen als Mittel der Emotionsbewältigung ist beim Fasten keine Option, das ist für viele eine neue Erfahrung und zieht die Notwendigkeit nach sich, einen neuen Weg zu finden, um mit Emotionen umzugehen.
Erreichen wir gesetzte Ziele, dann stärken die damit einhergehenden Erfolgserlebnisse unseren Selbstwert und unser Gefühl von Selbstwirksamkeit - sie fördern das Vertrauen in unsere Fähigkeiten, bestimmte Ziele, Herausforderungen und Aufgaben meistern zu können . . . und das umso mehr, je schwieriger eine Herausforderung subjektiv bewertet wird. Was bedeutet das aber für die Zeit nach dem Fasten?
Fasten und Schuldgefühle danach
Viele Menschen, die deshalb fasten, weil sie Gewicht verlieren möchten, kämpfen nach der Fastenperiode mit Schuldgefühlen, wenn sie sich wieder in ihren “alten” Ernährungsgewohnheiten finden.
Fasten beruht auf strengem Verzicht und es ist unrealistisch, diese Entbehrungen in unserem Alltag dauerhaft umzusetzen - vor allem wenn der Verzicht emotional bedeutsame Lebensmittel einschließt, wie z.B. Lieblingsspeisen, Schokolade oder anderes "individuell relevantes Soulfood".
Verzicht benötigt ein hohes Maß an kognitiver Kontrolle und diese ist im normalen Alltag nicht unbegrenzt möglich. Diese Kontrollfähigkeit mag für einen überschaubaren (Fasten-)Zeitraum funktionieren, jedoch nicht langfristig, denn sie ist sehr störanfällig. Stress, Müdigkeit oder schwierige Emotionen beeinträchtigen die Verhaltenskontrolle. Wie viele Tage pro Woche gibt es, an denen Stress, Müdigkeit oder schwierige Emotionen nicht unsere Begleiter sind?
Restriktives Essverhalten kann außerdem zu einem enthemmten Essverhalten führen - nach der Zeit des Verzichtens drängt sich “Nachholbedarf” auf. Das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Aus psychologischer Sicht sind Schuldgefühle zwar eine naheliegende Folge, wenn das Ziel des Fastens fälschlicherweise eine langfristige Gewichtsreduktion ist und das Scheitern nach der Fastenzeit mit dem Gefühl des Versagens einhergeht. Bedenkt man jedoch, dass Fasten kein geeigneter Weg für eine langfristige Veränderung des Essverhaltens darstellt, ist der Grund für das Scheitern vielmehr dieser Tatsache zuzuschreiben und nicht der Person selbst. Da der erwähnte “Nachholbedarf” ein automatischer Vorgang nach einer Phase des strengen Verzichtens ist, halte ich Schuldgefühle, weil nach dem Fasten wieder alte Essgewohnheiten dominieren für unbegründet. Für einen automatisch ablaufenden Prozess kann man*frau sich nicht schuldig fühlen! Das Ziel einer Fastenperiode kann keine nachhaltige Veränderung von Essgewohnheiten sein. Die Fastenzeit kann lediglich einen Anstoß geben, bestimmte Verhaltensweisen künftig ändern zu wollen.
Wann ist Fasten eine schlechte Idee?
Bei Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit wie z.B. bei Depressionen oder Essstörungen (sowohl aktuell bestehende als auch erfolgreich behandelte) ist vom Fasten abzuraten, ebenso bei bestimmten körperlichen Erkrankungen (z.B. Diabetes), regelmäßiger Medikamenteneinnahme oder hohem Lebensalter - eine Abklärung mit Arzt*Ärztin ist bei der Absicht zu fasten wichtig. Für Kinder, Schwangere oder Stillende ist Fasten nicht empfehlenswert.
Darüber hinaus halte ich persönlich - wie bereits erwähnt - Fasten für keine gute Idee, wenn das dahinter liegende Motiv eine Gewichtsabnahme ist, da diese mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nachhaltig ist. Im ungünstigsten Fall übersteigt die Gewichtszunahme nach dem Fasten das Ausgangsgewicht, weil der Stoffwechsel verlangsamt ist und im Sinne des Nachholbedarfs über die Stränge geschlagen wird. Für ein dauerhaft funktionierendes Gewichtsmanagement braucht es eine langfristige, allmähliche Veränderung von Ernährung UND Essverhalten, die gut in den Alltag der einzelnen Person integrierbar sowie auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasst ist, nicht auf dem Gefühl des Verzichtens beruht und dem bewússten Genuss ausreichend Platz einräumt - das ist mein Arbeitsansatz für ein erfolgreiches Gewichtsmanagement.
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