Psychodiabetologie - psychologische Begleitung für Menschen mit Diabetes
- Simone Ebner
- 29. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, die in Österreich etwa 800.000 Menschen betrifft. Die Diagnose kann das Leben der Betroffenen auf den Kopf stellen. Oft erfordert sie grundlegende Veränderungen und die Übernahme einer hohen Eigenverantwortung für die Therapie. Die permanenten Anforderungen und die Auseinandersetzung mit der Erkrankung können zu psychischen Belastungen führen. Hier setzt die Psychodiabetologie an - ein Fachbereich der Psychologie, der sich mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen emotionalem Befinden, Verhalten und Diabetesmanagement beschäftigt. Dieser Blogbeitrag soll einen Überblick über die Schwerpunktthemen der Psychodiabetologie geben, sodass nachvollziehbar wird, welchen Beitrag die Psychologie für Menschen mit Diabetes leisten kann.
Was ist Psychodiabetologie?
Die Psychodiabetologie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das die psychologischen, sozialen und verhaltensbezogenen Aspekte des Diabetes mellitus in den Mittelpunkt stellt. Sie hilft dabei, die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem individuellen Befinden bzw. Verhalten, dem Krankheitsverlauf und der Diabetesbehandlung zu verstehen und positiv zu beeinflussen. Psychodiabetologische Begleitung umfasst eine ganzheitliche Perspektive und betrachtet das Zusammenspiel zwischen psychischer und körperlicher Gesundheit. Im Fokus steht der Mensch mit Diabetes in seiner Gesamtheit und nicht “nur” seine Stoffwechselwerte.

Themenbereiche der Psychodiabetologie
Die Schwerpunkte der Psychodiabetologie sind vielfältig und können wie folgt zusammengefasst werden:
Förderung der Krankheitsbewältigung und Akzeptanz
Unterstützung der Betroffenen im Prozess der Krankheitsverarbeitung bzw. der Akzeptanz der chronischen Erkrankung und ihrer Integration in den Alltag und die persönliche Lebenswelt.
Psychosoziale Faktoren
Reflexion und Regulierung von psychischen (z.B. Motivation, Ängste, Stress) und sozialen Faktoren (z.B. Unterstützung durch das Umfeld, Stigmatisierung), die das Diabetes-Selbstmanagement maßgeblich prägen.
Unterstützung bei Verhaltensänderungen
Begleitung bei Lebensstil-Modifikationen (Ernährung, Bewegung, Blutzuckerselbstkontrolle, Therapie) durch Stärkung der Motivation und Vermittlung von konkreten Strategien.
Psychische Belastungen
Erkennen und Behandeln von psychischen Beeinträchtigungen wie Diabetes-Distress, Depressionen, Angsterkrankungen oder beeinträchtigtes Essverhalten.
Verbesserung der Lebensqualität
Die Linderung psychischer Belastungen verbessert die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes und senkt das Risiko für akute und langfristige Komplikationen.
Wozu Psychodiabetologie?
Ein zentraler Aspekt, der die Bedeutung psychodiabetologischer Unterstützung unterstreicht, ist die mögliche Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln. Das durch Schulungen erworbene theoretische Wissen über Diabetes und die Therapie ist kein Garant für eine konsequente Umsetzung dieses Wissens im Alltag. Mangelndes Diabetesmanagement liegt oft an psychologischen Barrieren. Faktoren wie Schwierigkeiten bei der Krankheitsakzeptanz, Stress, emotionale Belastungen wie Ängste oder depressive Verstimmungen können die Umsetzung der Behandlung im Alltag erschweren. Die Psychodiabetologie setzt an diesen Barrieren an. Sie hilft, psychologische Hürden zu identifizieren und zu überwinden, um die Brücke zwischen dem vorhandenen Wissen und dem tatsächlichen Handeln im Alltag zu bauen. Die Psychodiabetologie ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung, der die Basis für ein gelungenes Selbstmanagement schafft.
Psychische Belastungen im Leben mit Diabetes
Das Leben mit Diabetes mellitus stellt eine kontinuierliche Herausforderung dar, die weit über rein körperliche Aspekte hinausgeht. Die hohe Eigenverantwortung für die Therapie, die Notwendigkeit, Blutzuckerwerte und Insulingaben stets im Blick zu haben, Therapieanpassungen, Lebensstiländerung, mögliche Diskriminierungs-Erfahrungen und vieles mehr können zu emotionalen Herausforderungen führen. Menschen mit Diabetes sind überdurchschnittlich häufig von psychischen Belastungen und Erkrankungen betroffen:
Diabetes-Distress
Diabetes-Distress beschreibt eine Form der Belastung, die spezifisch auf die täglichen Anforderungen und Sorgen im Umgang mit Diabetes zurückzuführen ist. Dazu gehören Gefühle wie Frustration, Ärger, Besorgtheit, Schuld, Scham, Versagensängste oder Hoffnungslosigkeit bezüglich des Diabetesmanagements. Diabetes-Distress ist keine Seltenheit - Schätzungen zufolge erleben 18-45 % aller Menschen mit Typ 1- oder Typ 2-Diabetes einen erhöhten Distress.
Depression
Die Depression ist eine psychische Erkrankung, die durch Symptome wie anhaltende Traurigkeit oder das Fehlen jeglicher Emotionen, Antriebslosigkeit, Interessenverlust, Schlaf- und Appetitstörungen gekennzeichnet ist.
Angsterkrankungen
Angsterkrankungen umfassen die sogenannte generalisierte Angststörung (übermäßige Sorgen bezüglich alltäglicher Ereignisse und Probleme), Panikstörungen (plötzlich auftretende intensive Angst) und spezifische Phobien (z.B. Angst vor Spritzen). Vor allem können Diabetes-bezogene Ängste auftreten, wie die Angst vor Unterzuckerung (Hypoglykämie), die Angst vor Folgeerkrankungen oder die Angst vor der Insulintherapie selbst.
Essstörungen
Menschen mit Diabetes können von unterschiedlich ausgeprägten Essstörungen betroffen sein - ebenso von einem beeinträchtigten Essverhalten, unterhalb der Schwelle zu einer manifesten Essstörung. Auch eine spezifisch Diabetes-assoziierte Form der Essstörung - das Insulin-Purging - kann entstehen. Dabei wird bewusst zu wenig Insulin gespritzt, um Glukose über den Urin auszuscheiden und dadurch Gewicht zu verlieren.
Diabetes-Burnout
Ein Diabetes-Burnout kann als Folge von chronischem Diabetes-Distress entstehen. In diesem Fall treten die Symptome des Diabetes-Distress (Ohnmacht, Frustration, Wut, Überforderung) in Kombination mit einer tiefen emotionalen und körperlichen Erschöpfung im Umgang mit der Erkrankung auf.
Kognitive Beeinträchtigungen
Diabetes kann das Risiko für kognitive Beeinträchtigungen und Demenz erhöhen. Zudem können akute Blutzuckerschwankungen (sowohl Hypo- als auch Hyperglykämien) die Konzentrationsfähigkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit unmittelbar beeinträchtigen.
Andere psychische Belastungen
Substanzmissbrauch (Alkohol und andere Substanzen), sexuelle Funktionsstörungen und Schlafstörungen können sich im Zusammenhang mit Diabetes gehäuft zeigen.
Auswirkungen der psychischen Belastungen
Die psychischen Herausforderungen im Zusammenhang mit Diabetes können weitreichende Auswirkungen haben:
Psychische Gesundheit und Lebensqualität
Unbehandelter Diabetes-Distress kann sich zu einer manifesten Depression entwickeln. Psychische Belastungen, Ängste und Depressionen reduzieren die Lebensqualität erheblich. Die allgegenwärtige Befassung mit der Krankheit und die Sorge vor Komplikationen können die Lebensfreude trüben.
Körperliche Gesundheit - Blutzuckerkontrolle
Zwischen psychischer Belastung und schlechterer Stoffwechseleinstellung (höherer HbA1c-Wert = Langzeitzucker) besteht ein klarer Zusammenhang. Psychische Belastungen führen zur Ausschüttung von Hormonen (Cortisol, Adrenalin), die den Blutzucker direkt erhöhen und die Insulinwirkung verschlechtern. Zudem können psychische Beeinträchtigungen auch das Risiko für akute Komplikationen wie Unter- oder Überzuckerung sowie für langfristige Folgeerkrankungen an Augen, Nieren, Nerven und dem Herz-Kreislauf-System erhöhen.
Therapieadhärenz und Selbstmanagement
Menschen, die unter psychischem Druck stehen, vernachlässigen häufiger ihre Diabetestherapie. Sie messen seltener Blutzucker, kommen eher von anvisierten Lebensstilmodifikationen ab, halten Therapiepläne weniger ein oder lassen Arzttermine ausfallen.
Soziale und berufliche Auswirkungen
Diabetes und die damit verbundenen psychischen Belastungen können zu Konflikten in Partnerschaft und Familie führen, zu sozialem Rückzug und Isolation sowie zu Problemen im Berufsleben.
Psychodiabetologie durchbricht den negativen Kreislauf
Die genannten Zusammenhänge verdeutlichen den negativen Kreislauf psychischer Belastung und schlechter Stoffwechsellage. Die Diabeteserkrankung und ihre täglichen Anforderungen können psychischen Stress, Ängste oder Depressionen auslösen bzw. verstärken. Diese psychischen Herausforderungen erschweren wiederum das Selbstmanagement, führen zu schlechteren Blutzuckerwerten und können das Risiko für Komplikationen erhöhen. Das Auftreten von Komplikationen oder von verschlechterten Werten verstärkt seinerseits wiederum die psychische Belastung. Diese wechselseitige Beziehung macht deutlich, dass eine rein auf den Blutzucker fokussierte Behandlung für ein gelingendes Diabetesmanagement oft nicht ausreicht. Eine effektive Diabetestherapie sollte auch psychologische Faktoren berücksichtigen, um diesen negativen Kreislauf zu durchbrechen.
Vor allem der Diabetes-Distress als spezifische und häufige Herausforderung sollte ausreichend Berücksichtigung finden. Seine hohe Verbreitung und die negativen Auswirkungen auf das Selbstmanagement machen ihn zu einem zentralen Thema in der Psychodiabetologie. Psychologische Begleitung, die gezielt auf die Bewältigung der Diabetes-bezogenen Belastungen abzielt, ist hier essenziell. Das frühzeitige Erkennen und Lindern dieser Belastungen ist entscheidend für eine gute und nachhaltige Diabetesversorgung.