Vor einiger Zeit wurden interessante Fragen zur Bedeutung des Weihnachtsessens an mich herangetragen. Da Weihnachten kurz bevor steht, ist dies eine gute Gelegenheit, mal genauer hinzusehen, was das Weihnachtsessen in seiner Bedeutung so besonders macht, welchen Bedürfnissen unser (Weihnachts-)Essen abseits des Stillens von Hunger dient und wie so manche Veränderung - beispielsweise der Wechsel auf vegetarische Ernährung oder notwendige Ernährungsumstellungen wegen Unverträglichkeiten bzw. Intoleranzen - altbewährte Familientraditionen irritieren können.
Unser (Weihnachts-)Essen erfüllt viele Bedürfnisse
Essen dient nicht nur der Versorgung körperlicher Bedürfnisse, sondern auch der Erfüllung psychischer Bedürfnisse. Nahrung kann durch die Ausschüttung unterschiedlicher Botenstoffe auf physiologischer Ebene beruhigend, entspannend und wohltuend wirken. So kann Essen unangenehme Gefühle besänftigen, Stresserleben erträglicher machen oder nach einem anstrengenden Tag als Belohnung dienen. Für viele Menschen ist die Vorweihnachtszeit besonders stressig - da ist der Gedanke naheliegend, sich nach dieser anstrengenden Zeit an den Feiertagen etwas Gutes tun zu wollen, sich etwas gönnen zu wollen . . . und dazu kann unser (Weihnachts-)Essen dienen.
Im sozialen bzw. familiären Kontext kann das gemeinsame Weihnachtsessen dazu beitragen, das Bedürfnis nach Bindung und Zusammengehörigkeit zu nähren, das Genusserleben durch die gemeinschaftliche Essenssituation zu fördern und Wertschätzung zu vermitteln sowie Wohlwollen zu erfahren (Gastgeber*innen vermitteln Wohlwollen / Wertschätzung, Gäste erfahren Wohlwollen / Wertschätzung). Das Zusammensein beim Weihnachtsessen bietet Gelegenheit, Erinnerungen zu teilen, wieder aufleben zu lassen und gemeinsam neue zu schaffen. Weihnachtliche Traditionen geben ein Gefühl der Beständigkeit und Kontinuität, was in einer sich laufend verändernden Welt eine zuverlässige Stütze darstellen kann, denn der Familienzusammenhalt vermittelt im wahrsten Sinne des Wortes Halt.
Die Bedeutung alljährlicher traditioneller Weihnachtsmenüs
Traditionelle Gerichte haben oft eine lange Geschichte und werden über viele Generationen weitergegeben. Sie sind Ausdruck der kulturellen sowie der Familienidentität und tragen zur Aufrechterhaltung von Werten bei. Überlieferten Rezepten aus älteren Generationen wird meist eine große Bedeutung entgegengebracht. Diese “alten” Rezepte in der heutigen Zeit wieder und wieder auf den Teller zu bringen, schafft Verbindung zu früheren Generationen. Die Zubereitung und der Verzehr von Speisen kann Erinnerungen und Emotionen hervorrufen, die mit früheren Weihnachtsfesten und geliebten Menschen assoziiert sind. So können beispielsweise der Duft oder der Genuss der traditionellen Vanillekipferl schöne Kindheitserinnerungen an das gemeinsame Backen mit der Großmutter wecken.
Einer der Aspekte, die das Weihnachtsessen zu etwas Besonderem machen, ist die Tatsache, dass es nur ein Mal im Jahr stattfindet - sowohl der feierliche Anlass zur Familienzusammenkunft als auch das Essen an sich. Wäre das Weihnachtsmenü wöchentlich auf dem Tisch, würde es an Bedeutung verlieren.
Traditionen sind mit Vorfreude und Freude verbunden. Zudem vermitteln sie Vorhersehbarkeit sowie Sicherheit und stärken das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Kontinuität. Im Gegensatz dazu können Traditionen allerdings auch als einschränkend empfunden werden, insbesondere wenn sich Familienmitglieder durch Traditionen unverstanden fühlen. Bedürfnisse nach Selbstbestimmtheit und Akzeptanz werden in diesem Fall verletzt.
Festliche Speisenauswahl
Gerade zu Weihnachten ist die Speisenauswahl am Tisch besonders vielfältig und reichlich. Alle Familienmitglieder gut versorgt zu wissen, vermittelt Wohlwollen, Geborgenheit und Anerkennung der verschiedenen Bedürfnisse in der Familie, sodass sich niemand benachteiligt oder ausgegrenzt fühlt. Fühlen sich alle in ihren individuellen Vorlieben wahrgenommen, stärkt dies das Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz - wichtige Aspekte für ein harmonisches Zusammensein.
Auswahlmöglichkeiten zu haben, wird mit Genusserleben und Freude assoziiert und macht die Mahlzeit zu etwas Besonderem, denn in der Regel sehen unsere Mahlzeiten im Alltag anders aus. Die “Ausnahme zum Alltag” lädt dazu ein, mehr als üblich zu essen, eine größere Auswahl und andere Gerichte als üblich auf den Tisch zu bringen . . . sich einfach aus festlichem Anlass etwas zu gönnen, das den Rest des Jahres nicht üblich ist.
Ernährung im Einklang mit körperlichen UND psychischen Bedürfnissen
Für unser psychisches Wohlbefinden ist es wichtig, im Einklang mit unseren Werten zu leben. Dadurch fördern wir unser emotionales Gleichgewicht und unsere Lebensqualität, die sowohl von körperlicher als auch von psychischer Gesundheit geprägt ist.
Hinter jeder (Ernährungs-)Entscheidung einer Person steckt ein konkreter Grund - z.B. bedeutende Bedürfnisse und Werte, nach denen diese Person leben möchte - das kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sein, die Förderung der eigenen Gesundheit, das Streben nach Genuss, ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber Tieren und der Umwelt, usw. Es gibt unzählige Gründe, warum sich eine Person für bzw. gegen eine bestimmte Form der Ernährung entscheidet. Wird diese Ernährungsweise vom Gegenüber nicht respektiert, kann sich die betroffene Person dadurch mit ihren Werten und Bedürfnissen per se in Frage gestellt fühlen.
Hinter jedem “Nein” einer Person steckt ein “Ja” zu einem bestimmten Bedürfnis dieser Person. Sich das vor Augen zu führen, kann helfen, das Verhalten und die Entscheidungen unserer Mitmenschen besser zu verstehen. Akzeptanz und Rücksichtnahme auf die Ernährungsbedürfnisse anderer fördern einen aufgeschlossenen Umgang miteinander und stärken soziale Beziehungen.
Wenn sich eine Ernährungsumstellung mit dem traditionellen Weihnachtsessen nicht mehr verträgt
Die Entscheidung eines Familienmitgliedes für vegetarische / vegane Ernährung oder die notwendige Ernährungsumstellungen wegen Unverträglichkeiten / Intoleranzen können die weihnachtliche Menü-Tradition irritieren. War der Hauptgang des traditionellen Weihnachtsessens jahrelang der Braten, die Weihnachtsgans oder der Weihnachtsfisch, dann wird es für Gastgeber*innen schwierig, wenn sich ein Familienmitglied neulich der vegetarischen Ernährung zugewandt hat. Kommen alljährlich beim Weihnachtsessen Semmelknödel als Beilage, wird diese Tradition durch die kürzlich diagnostizierte Glutenunverträglichkeit eines Familienmitglieds untergraben.
Auf Gastgeber*innen-Seite kann Überforderung spürbar werden, wenn es darum geht, die Zubereitung des Essens aufgrund veränderter Ernährungsbedürfnisse in der Familie anzupassen. Sich von Vertrautem und lange Bewährtem verabschieden zu müssen und bisher unbekannte Alternativen zu erschließen, ist mit Unsicherheit verbunden, da entsprechende Erfahrungswerte fehlen. Der “Verlust des Vertrauten” kann mit Enttäuschung oder Ärger einhergehen.
Was soll stattdessen gekocht werden? Wo sind geeignete Rezepte zu finden? Wird das neue Rezept auch gelingen? Und wird das neue Gericht überhaupt schmecken? All diese und noch viele weitere Fragen sind Folge davon, dass gewohnte Bahnen verlassen werden. Wird der Veränderungsbedarf der Tradition als Einschränkung empfunden, kann sich auch Widerstand auftun, denn Traditionen zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen festgehalten wird.
Familienmitglieder, die ihre Ernährungsweise verändert haben, können sich missverstanden oder ausgeschlossen fühlen, wenn ihre Bedürfnisse übergangen werden. Die ernährungspsychologische Perspektive zeigt, dass Ernährung eine sehr persönliche Angelegenheit ist und stark von individuellen Überzeugungen und Werten abhängen kann, somit Teil der Identität ist. Wird in der Familie die Entscheidung einer Person für eine bestimmte Ernährungsweise resultierend aus werteorientierten Ansprüchen (wie z.B. Tierwohl, Umweltbewusstsein, Gesundheit) nicht akzeptiert, so kann dies unterschiedliche Reaktionen auslösen, von Wut oder Traurigkeit über Frustration oder Resignation (im Falle immer wiederkehrender enttäuschender Erfahrungen) bis hin zu Schuldgefühlen.
Der Verzicht auf traditionelle Familienrezepte aus gesundheitlichen Gründen
Muss eine Person aus gesundheitlichen Gründen bestimmte Lebensmittel und folglich traditionelle Mahlzeiten aufgeben, führen Entbehrung und Verzicht beispielsweise zu Enttäuschung, Hilflosigkeit oder Ärger. Diese unangenehmen Emotionen als Folge der Einschränkung sind besonders intensiv, wenn traditionelle Speisen mit schönen Erinnerungen und positiven Emotionen verknüpft sind, also eine große Bedeutung haben. Auf eine Mahlzeit zu verzichten, die keine besondere Bedeutung hat, ist einfacher. Andererseits können positive Erfahrungen, die allmählich mit einer notwendigen Ernährungsumstellung gemacht werden (wie z.B. nachlassende Verdauungsbeschwerden) dazu führen, dass sich die neue Ernährungsweise nicht mehr als Entbehrung anfühlt, weil deren wohltuende Auswirkung auf den Körper spürbar wird. In diesem Fall orientiert sich die Ernährung an selbstfürsorglichen Entscheidungen.
Veränderung als Chance für neue Erfahrungen
Die Entwicklung neuer Traditionen kann Flexibilität und Offenheit fördern, die Perspektive erweitern und zu einer wandelbaren, dynamischen Familienkultur führen. Das Ausprobieren neuer Speisen führt zu neuen Geschmackserfahrungen und eröffnet damit die Möglichkeit für bisher unentdeckte Genusserlebnisse.
Das Aufbrechen von Traditionen, die als starr oder einschränkend empfunden werden, kann bereichernd wirken und bietet Raum für Veränderungs- und Anpassungsprozesse, die den individuellen und aktuellen Bedürfnissen womöglich näher kommen.
Es kann hilfreich sein, frühzeitig über weihnachtliche Ernährungsbedürfnisse in der Familie zu sprechen, damit ausreichend Zeit für die Planung zur Verfügung steht. Um die eigene Entscheidung für eine bestimmte Ernährungsform für andere besser nachvollziehbar zu machen, ist es empfehlenswert, über die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu sprechen. Welche moralischen Ansprüche, welche persönlichen Werte, Vorlieben oder gesundheitlichen Aspekte stecken dahinter?
Eine respektvolle Kommunikation über Ernährungsbedürfnisse fördert das Verständnis und hilft Missverständnissen und Konflikten vorzubeugen. Aufgeschlossenheit und Offenheit für die Bedürfnisse des Gegenübers erleichtern die Kommunikation. Kompromissbereitschaft und Kreativität unterstützen eine gemeinsame Lösungsfindung.
Die Schritte der Rezeptsuche bzw. -auswahl und Mahlzeiten-Zubereitung in der Familie gemeinsam zu gehen, mildert Überforderung oder Unsicherheit auf Gastgeber*innen-Seite und fördert durch die gemeinschaftliche Gestaltung des Weihnachtsessens die familiäre Verbundenheit.